„Die WM geht uns am Arsch vorbei“
Der Harte Kern der Fußballfans in den deutschen Stadien interessiert sich kaum für die
Fußballweltmeisterschaft.
Die Fußball-WM steht ins Haus und alle wollen hin. Wirklich alle ? Eigentlich nicht. In den Fanblöcken der Bundes- und Regionalligen ist die Identifikation mit dem Produkt Fußball-WM nicht sonderlich ausgeprägt. Viele Fußballfans, die in Deutschland ihren Verein Woche für Woche begleiten und unterstützen, lehnen die FIFA-Veranstaltung grundsätzlich ab. „Bei den Fans des 1.FCS spielt die WM keine Rolle. Wenn überhaupt, findet sie bei dem einen oder anderen neben dem Schwenker im Garten vorm Fernsehen statt“, erklärt Jörg Rodenbüsch vom Fanprojekt „Innwurf“ des 1. FC Saarbrücken gegenüber POTATO.
Ob in Berlin, Hamburg, im Ruhrpott oder in München, der harte Kern der Fußballfans, die sich auch gerne als Ultras bezeichnen, betrachtet die Fußball-WM als einen einmonatigen Werbeblock, unterbrochen von ein paar Fußballspielen und will dem Kommerz-Event fernbleiben oder den Betrieb mit Aktionen stören. „Geplant ist vieles, aber erzählt wird immer viel. Sicher ist eins: Die WM geht uns am Arsch vorbei“, sagt Jürgen aus Mönchengladbach. Dennoch werden alle WM-Stadien ausverkauft sein. Und selbst für absolute Ladenhüter wie Paraguay gegen Trinidad Tobago am 20. Juni in Kaiserslautern wird es voraussichtlich keine Eintrittskarten mehr geben. Die Kommerzialisierung des Fußballs, die Entfremdung zum Fan in der Kurve, der immer mehr nur noch als Kunde betrachtet wird, und vor allem die erhöhten Repressionen, denen sich Fußballfans in den letzten Monaten ausgesetzt fühlten, haben zum Bruch geführt.
Ein Beispiel aus dem Bundesliga-Alltag in Duisburg: Dort bekam die Bayern München-Fangruppe „Schickeria“ Ärger mit dem Knüppel der Staatsmacht, als man sich mit einer befreundeten Gruppe aus Bochum treffen wollte. Im Internet erklären die Münchner auf ihrer Homepage hierzu: „Nach dem Spiel Duisburg – FC Bayern am 25.03.2006 gingen wir in einer Gruppe von rund 100 Fans in Richtung S-Bahnhof, um von dort nach Bochum zu fahren, wo wir mit befreundeten Ultras des VFL Bochum feiern wollten. Der Weg zum Bahnhof führt an der Heimkurve der MSV-Arena vorbei. Dort kam es zu kleineren Pöbeleien und Auseinandersetzungen zwischen wenigen Fans beider Vereine. Daraufhin wurde ein großer Teil unserer Gruppe so wie andere Bayernfans auch von der anwesenden Polizei unter Einsatz von Schlagstöcken und Kampfhunden über den Platz getrieben und teilweise eingekesselt. Danach wurden von den eingekesselten 54 Personen durch die Polizei Personalien aufgenommen. ....Betroffen waren neben zahlreichen sehr jungen Fans auch eine Frau und ein körperlich gehandicapter Fan. In den letzten Tagen erreichte 59 Bayernfans ein zweijähriges, bundesweit gültiges Stadionverbot, ausgesprochen vom MSV Duisburg. Grundlage hierfür ist ein eingeleitetes Ermittlungsverfahren wegen Landfriedensbruchs.“
Der Schickeria-Vorfall in Duisburg ist kein Einzelfall. Auch im März dieses Jahres und wieder in Duisburg: Ein rüder Polizeieinsatz gegen junge Ultras aus Hannover, der von einem Handy aufgezeichnet wurde und im Internet kursiert, zeigt Polizeikräfte beim Zusammenschlagen junger Fußballfans, die Lieder in ihrem Zug-Waggon gegrölt hatten. Der aufmerksame Stadionbesucher konnte in der gerade abgelaufenen Bundesliga-Saison in fast sämtlichen Bundesliga- und Regionalligastadien – abseits der „Sportschau“-Kameras, die dezent wegschauten – zahlreiche Spruchbänder sichten mit Aufschriften wie „Freiheit für die Kurve“ oder „Fußballfans sind keine Verbrecher“ und auch „Gegen den modernen Fußball“. Forderungen, für die sich auch rivalisierende Ultra-Gruppen zusammenschließen, wie zum Beispiel in Bielefeld im vergangenen Oktober. Damals solidarisierten sich Fans der heimischen Arminia mit dem sonst „verhassten“ Derby-Gegner aus Hannover, nachdem die 96er in Gelsenkirchen „schlechte Erfahrungen mit der Polizeiwillkür“, wie es in der Szene hieß, gemacht hatten. Statt Vorfreude auf die WM im eigenen Land herrscht daher bestenfalls Gleichgültigkeit. „Fast alle hier haben einfach keinen Bock auf die WM“, sagt Jörg aus Essen.
Der harte Kern der Fußballfans, der Woche für Woche für Farbe und Stimmung in den deutschen Fußballstadien sorgt, lehnt gar die modernen Superkomfort-Arenen ab, die in vielen Bundesliga-Städten für die WM aus dem Boden gestampft wurden: Die Ultras wollen „in ihrer Kurve stehen, die Plätze wechseln können, ihre Lieder mit Freunden singen und eine ausgelassene Party feiern, wo nicht vorgeschrieben wird, welches Bier getrunken werden darf oder nicht“. Bei der WM erwartet die Fußballfans hingegen eine Passkontrolle am Eingang, nummerierte Sitzplätze und Ordnungskräfte, die nicht nur darauf achten, dass die Sitzschalen nicht verlassen werden, sondern auch darauf, dass man sitzen bleibt. Kein Zustand für Norbert aus Offenbach: „Fußballfans sind kein Opernpublikum.“
Autor: Chris Mathieu (Potato-Magazin vom 24.05.2006)